Ich lebe in Kreuzlingen am Bodensee. Ich lebe hier, mit einer kurzen Unterbrechung, seit mehr als 30 Jahren. Ich lebe gerne hier. Ich mag die Gegend wegen ihrer Offenheit.
Kreuzlingen und die Nachbarstadt Konstanz nehme ich eigentlich als eine Stadt wahr. Eine Wahrnehmung, die ich vermutlich mit vielen teile. Die ewig Gestrigen, die sich über ihre Nachbarn aufregen gibt es natürlich auch hier – hüben wie drüben. Diese stellen aber zum Glück eine kleine, mitunter leider sehr laute Minderheit dar.
Die Grenze verläuft bei uns mitten durch die Gärten der Häuser. Hier ist die Grundstücksgrenze auch gleich Landesgrenze und der Nachbar im Haus nebenan lebt im Ausland. Doch die Durchlässigkeit der Grenze war für die Bewohner fast schon eine Selbstverständlichkeit. Freundschaften, Familienbande und Liebesbeziehungen waren und sind grenzenlos.
Seit dem Lockdown existiert hier, in dieser offenen Region eine starre Grenze, die mitten durch die Stadt verläuft. Die Grenze wurde von einem Tag auf den anderen geschlossen und dort wo man bisher unbehelligt die Grenze überquerte, wurde ein einfacher Zaun errichtet.
Unter den Argusaugen von Zoll, Grenzpolizei, Armee, und privaten Securitydiensten stehen die Paare jetzt mit Abstand am Zaun. Man darf nicht mehr Händchen halten. Zärtlichkeiten unter Liebenden sind nun verboten. Wie lange soll das so gehen?
Drohnen fliegen zur Überwachung entlang der Grenze und die das Dröhnen von Armeehubschraubern gehört jetzt zu unserem neuen Alltag. Am Boden wird jede Missachtung der neuen Verhaltensvorschriften oder der Anweisungen der Behörden gerne und grosszügig mit Bussen geahndet. Eine Frau reicht ihrer Freundlin eine Jacke über den Zaun. Die Freundin hat sie bei einem Besuch vergessen. Zack: 100 Franken Strafe! Ein Stück Geburtstagskuchen wird dem Jubilar zum gemeinsamen Verzehr über den Zaun gereicht. Zack: auch für dieses Vergehen wird eine Busse von 100 Franken fällig!
Da sich an diesem Zaun Freunde, Familien und Paare getroffen haben – teilweise händchenhaltend, wie das unter Liebenden üblich ist, wurde im Abstand von etwa 3 m ein zweiter Zaun parallel zum ersten Zaun errichtet. Eine breite Schneise, gleich einer klaffenden Wunde, sorgt nun dafür, dass hier keine Zärtlichkeiten mehr ausgetauscht werden können.
Die Bewachung bleibt. Mit Argusaugen schaut man, dass die Abstände zwischen den Personen entlang des Zauns eingehalten werden. Selbst jugendliche Brüder, die beide im gleichen Haushalt mit ihren Eltern wohnen, werden barsch und gegen jeden Menschenverstand aufgefordert 2m Abstand von einander zu halten. Für den Fall der Missachtung der Anordnung wird auch hierfür eine Busse von CHF 100 in Aussicht gestellt. Da nützen auch alle Erklärungsversuche nichts. Manch ein Überwacher scheint seine neu gewonnene Machtposition zu geniessen. Vernunft und Menschlichkeit haben da offenbar wenig Platz.
Die Situation schmerzt. Liebespaare dürfen sich keinen physischen Halt geben dürfen.
Doch es gibt auch Aktionen am Grenzzaun, die versuchen, diese Distanz und die Trennung mit Kreativität zu überwinden. Gesellschaftsspiele wurden im „Abstandstreifen“ aufgestellt, sodass sie von beiden Seiten bespielt werden können. Plakate wurden aufgehängt. Auf Konstanzer Seite wurde aus rot-weissem Absperrband in grossen Lettern „Kreuztanz“, eine Wortneuschöpfung aus Konstanz und Kreuzlingen, und ein Herz in den Zaun gewoben.
Initiiert wurde die Aktion von dem Künstler Bert Binnig, der sich durch seine Kunstaktionen im öffentlichen Raum, Urban Art, in der Region einen Namen gemacht hat. Bert Binnig hat dieses Zeichen der Gemeinschaft spontan gemeinsam mit ein paar Freunden an den Grenzzaun gesetzt. Zu seiner Motivation und den Reaktionen sagt er folgendes:
„Ich bin ziemlich überwältigt was die Aktion für Wellen schlägt. Scheinbar geht es vielen Menschen so in Kreuztanz-Konstlingen. Wir haben die Städte Konstanz und Kreuzlingen nie als etwas wirklich getrenntes empfunden. Die Grenze hat bisher kaum eine Rolle gespielt. Wir haben Patenschaften für unsere Kinder über die Grenze, meine Joggingstrecke ist auf dem Seerücken, im Sommer sind wir in der Badi und unsere Kirchengemeinde ist in Kreuzlingen. Der Schriftzug aus Absperrband soll die Grenze wie sie jetzt gestaltet ist sichtbar machen und gleichzeitig ausdrücken, dass wir eins sind mit unseren Nachbarn.“
Es bleibt zu hoffen, dass wieder etwas mehr Menschlichkeit einkehrt. Es bleibt zu hoffen, dass man ein Einsehen hat, dass man Paare, Familien und gute Freunde auf Dauer nicht voneinander trennen sollte. Ein menschliches Augenmass wäre auch in Coronazeiten gefragt!
Nachtrag 25.4.2020: Verheiratete Paare und minderjährige Kinder dürfen sich bzw. ihre Eltern mittlerweile wieder sehen. Für unverheiratete Paare ist die Grenze weiterhin geschlossen.
4 Antworten
Hallo Ellen,
Ein toller Artikel. Bei allen Vorsichtsmaßnahmen muss man sich schon fragen muss ob hier nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird.- Gib dem Menschen Macht und du erkennst seinen wahren Charakter.
Auf der anderen Seite kommen immer noch Menschen mit dem Flugzeug aus allen Herren Länder. Selbst als für alle Einreisenden eine 14 tägige Quarantäne angeordnet wurde hat das niemand interessiert und wurde auch nie kontrolliert. Am Flughafen (München und Amsterdam) gab es keine Kontrollen. Das Formular, mit Angaben zum den letzten vier Wochen und den gesundheitlichen Zustand, das man im Flugzeug ausfüllen mussten, konnten man in München noch am Flughafen in den Papierkorb werfen. Damit konnte keiner was anfangen. Verrückte Welt.
Lieber Herbert
Ich kann Dir nur beipflichten. Hier ist teilweise jegliche Verhätlnismässigkeit verloren gegangen. Auch ich habe es erlebt, dass ich in Zürich am Flughafen ohne Befragung und ohne jegliche Kontrollen einreisen konnte, als andere Länder längst sensibilisiert waren. Da habe ich mich doch sehr gewundert.
Ich würde in dem ganzen Drama grundsätzlich etwas mehr Menschlichkeit und Augenmass wünschen. Wir bleiben ja zu Hause und meiden Kontakte. Aber bei allem Respekt für die Massnahmen sollte auch das Seelenheil der Menschen nicht in Vergessenheit geraten.
Liebe Grüsse
Ellen
Liebe Ellen,
Das wusste ich gar nicht – wie schrecklich! Man hat sofort die Bilder an der Grenze USA-Mexiko vor Augen. Mein Mann hat lange in Konstanz gewohnt und uns blutet das Herz…
Herzliche Grüße und bleibt gesund,
Sanne
Liebe Sanne
Es ist entsetzlich – und ja- auch ich habe dabei die Bilder von der Grenze der USA zu Mexiko vor Augen. Ich hoffe, sehr, dass hier bald eine sinnvolle Lösung gefunden wird.
Bleib auch Du gesund!
Liebe Grüsse
Ellen