Andermatt bedeutet «an der Wiese». Das Dorf liegt im Ursental an der Reuss, am Fusse des Oberalppasses, inmitten von unberührter Natur. Doch nicht nur Wanderinnen und Naturliebhaber schätzen die Lage, auch Motorradfahrer und Rennradfahrerinnen lieben die Pässe rund um Andermatt. Bei gutem Wetter begegnet man ihnen am Laufmeter.
Von Zürich aus ist Andermatt in anderthalb Stunden zu erreichen. Da an unserem Anreisetag die Sonne am Himmel brennt, beschliessen wir, einen Stopp am Lauerzersee einzulegen. Mit einem kleinen Boot kann man sich auf die winzige Insel Schwanau übersetzen lassen. Hier gibt es zwar nicht viel, eine Festung, eine Kapelle und ein Gasthaus, aber alleine die romantische Bootfahrt lohnt sich.
Nicht weit von der Bootsanlegestelle entfernt gibt es einen Badeplatz, wo wir uns abkühlen (auf der gegenüberliegenden Seeseite gibt es auch eine richtige Badi, das Seebad Seewen). Zu meiner grossen Freude entdeckt Tim im Wasser einen toten Krebs, den wir unbedingt einpacken und mitnehmen müssen. Juhu! Wir verstauen ihn immerhin geruchssicher in einer leeren Petflasche.
Zu nunmehr sechst – neben dem Krebs ist für einmal auch unser ältester Sohn Luca (22) dabei – geht es weiter in Richtung Uri. Andermatt ist tatsächlich einer der wenigen Orte in der Schweiz, an denen ich noch nie war. Was ich mit Andermatt verbinde? Samih Sawiris und sein gigantisches Tourismusprojekt. Und natürlich Skirennfahrer Bernhard Russi.
Neun Monate Winter und drei Monate Hoffnung
Das Radisson Blu Hotel Reussen Andermatt liegt direkt am Ortseingang, ein grosser holzverkleideter Bau, Teil eines eigenen Miniaturdorfs, an dessen «Dorfplatz» sich unter anderem ein Café und ein Sportgeschäft befinden. Ende 2018 wurde das Hotel eröffnet, vorher stand hier lange das Barackendorf der Armee. Wir sind auf 1447 Meter über dem Meer und es ist merklich kühler als im Unterland, aber immer noch warm und sonnig. Eine Seltenheit, wie wir gleich zu Beginn erfahren. «Hier oben sagen wir: Wir haben neun Monate Winter und drei Monate Hoffnung», klärt uns der Rezeptionist beim Check-in auf. Glück gehabt!
Wir beziehen unser Zimmer – oder vielmehr: unsere Residenz. So heissen die Apartments des Hotels. Unseres ist riesig: zwei separate Schlafzimmer (eins davon mit En-Suite-Bad), ein Wohn-Esszimmer, ein zusätzliches Bad und ein grosszügiger Balkon. Das Radisson Blu ist das zweite Hotel, das neben dem Luxushaus The Chedi zum Projekt Andermatt Swiss Alps des ägyptischen Investors Samih Sawiris gehört. Andermatt, vor nicht allzu langer Zeit noch militärisches Alpenreduit, lockt inzwischen mit dem grössten Skigebiet der Zentralschweiz, einem Golfplatz und den beiden Sternehotels. Alleine das Radisson Blu verfügt über 179 Hotelzimmer und 43 Ferienwohnungen mit Hotelservice. «Basecamp» nennt Direktor Andreas Meier sein 4-Sterne-Superior-Haus, denn es ist der ideale Ausgangspunkt für Unternehmungen in der Natur. Im Gegensatz zum 5-Sterne-Luxushaus The Chedi ist das Radisson Blu für ein breiteres Publikum gedacht, und so begegnen sich hier Familien, junge Pärchen und Wanderer. «Natürlich entscheidet auch der Zimmerpreis über das Publikum», sagt Meier. Im Chedi muss man mindestens das Doppelte für eine Nacht hinblättern.
Ausflug zur berühmtesten Schlucht der Schweiz
Wir wollen das gute Wetter ausnutzen – wer weiss, wie lange es anhält! – und machen uns auf den Weg zum Oberalpsee, der sich auf der Urner Seite des Oberalppasses befindet. Mit dem Auto fährt man nicht einmal 20 Minuten. Umso grössere Augen machen die Kinder, als sie den halb zugefrorenen See erblicken. Überhaupt ist es hier oben überraschend kühl, aber schliesslich sind wir auch auf über 2000 Metern Höhe. Und so verweilen wir nicht lange, sondern fahren zurück ins Dorf. Hier beginnt der Weg zur berühmtesten Schlucht der Schweiz: der Schöllenenschlucht. Allein die klingenden Namen «Teufelsbrücke» und «Schöllenenschlucht» lassen die Kinderherzen höherschlagen. Es ist nur ein Katzensprung von der Idylle des Dorfkerns zur Rauheit der Schlucht, in der die Reuss tobt und die von der Teufelsbrücke überspannt wird. Beeindruckend. Die Kinder sind vor allem von den «Gefängnis»-Gittern in den Felsen fasziniert. Der Berg ist ein militärischer Bau, in den ein Stollen gehauen ist. Ein Zeugnis vom Ende des 19. Jahrhunderts, als der Gotthard-Raum militärisch gesichert wurde, um das Land vor feindlichen Angriffen zu schützen. Im schlimmsten Fall hätte man gar die Teufelsbrücke sprengen wollen!
Zurück im Hotel, legen wir kurz unsere Sachen ab und gehen dann schnurstracks in den modernen Wellnessbereich. Während wir Sauna und Dampfbad geniessen, toben die Kinder im 25-Meter-Pool herum. Die ideale Mischung aus Erholung und Auspowern, bevor es relativ spät zum Abendessen geht. Für uns gibt’s ein köstliches Dreigangmenu. Die Kinder wählen ausnahmsweise mal nichts von der Kinderkarte, sondern Rösti und Risotto vom Menu. Das freut das Elternherz.
Vom Arnisee bis (fast) zum Nidersee
Es gibt so viele Wanderwege rund um Andermatt, dass die Wahl eine wahre Qual ist. Beim Frühstück am nächsten Morgen – das Buffet ist grandios, vor allem die frischgebackenen Waffeln sind heiss begehrt – schmieden wir den Tagesplan. Da wir Wandern und Baden kombinieren wollen, entscheiden wir uns für den Weg vom Arnisee zum Nidersee. Ausgestattet mit einem von der Küche gefüllten Picknickkorb, fahren wir mit dem Auto zur Talstation Intschi, von wo aus uns die Seilbahn direkt zum Arnisee bringt.
Die Wanderung führt am Leitschachbach entlang. Welch ein Idyll! Unterwegs kühlen wir unsere Füsse im eiskalten Nass des Bachs, an dessen Ufer noch immer Schnee liegt. Der Weg ist nicht schwer, doch weil es bergauf geht, gleichwohl nicht ganz mühelos. Nach gut zwei Stunden fragen wir entgegenkommende Wanderer, wie weit es noch zum Nidersee ist – und unser Jüngster erntet mitleidige Blicke. Über eine Stunde noch geht es offenbar recht steil bergauf, und zwar über einen schneebedeckten Pfad. Wir hadern, denn der leuchtend türkisfarbene See lockt uns gewaltig. Nach einigem Hin und Her entscheiden wir uns schliesslich umzukehren, weil ja der ganze Weg auch noch zurückgelaufen werden will. Schade! Aber die Wanderung hat sich auch so gelohnt. Zurück am Arnisee – der Weg bergab ist ein Kinderspiel, hätten wir das nur früher gewusst! – traut sich nur mein Mann ins sehr kühle Nass.
Der Hunger ist gross, als wir am Abend ins Hotel zurückkommen. Direktor Andreas Meier, ursprünglich selbst gelernter Koch – «ich war leider nicht talentiert genug», gesteht er lachend – legt Wert auf gesundes Essen. Überhaupt auf die Nähe zur Natur. Der 44-Jährige, Vater zweier Töchter und gebürtiger Zürcher, lebt seit der Hoteleröffnung Ende 2018 als Wochenaufenthalter in Andermatt. Seine Familie ist in Zürich geblieben, kommt aber regelmässig zu Besuch. «Am liebsten laufe ich mit meinen Kindern durchs Unteralptal», schwärmt er. Dank des Kieswegs sei dies auch bei Regen kein Problem. Neben Murmeltieren, Eichhörnchen, Gämsen und Steinböcken gebe es unzählige Wasserfälle zu bestaunen. «Perfekt für Kinder, und das direkt vor unserer Nase!»
Privater Kochkurs – eine Hommage an die traditionelle Schweizer Küche
Natur pur – das ist es, was Andermatt ausmacht. An Angeboten für Familien mangelt es nicht – das Hotel bietet Flora- und Fauna-Touren mit Einheimischen an, man kann biken, Klettertouren buchen, in Sedrun Gold waschen und in der Rhone riverraften. Doch da ist eben das Wetter, das hier oben gern unerwartet umschlägt. Ein Lottospiel, das es dem Ort als Tourismusdestination nicht leicht macht. Sicher, im Hotel gibt es den grossen Pool und für die Erwachsenen wechselnde musikalische Angebote in der Konzerthalle. «Aber das reicht nicht», findet Andreas Meier. Und freut sich auf die Zukunft, denn die Tage der Schlechtwetter-Langeweile sind gezählt: Direkt neben dem Hotel ist ein Sportzentrum und Funpark geplant.
Wir brauchen zwar keinen Funpark, sind aber froh, dass wir heute, wo der Himmel erstmals bewölkt ist, etwas ganz Besonderes gebucht haben: einen privaten Kochkurs vom Chefkoch des Radisson Blu. Das Menu: typische Urner Küche. Deftige Brotsuppe, Risotto mit Kartoffeln («Ryys und Poor und druuberbrennts») und Brischtner Niddlä (gekochte Dörrbirnen mit Vanilleglace und Schlagrahm). Auch hier lautet das Motto: Back to the roots. «Mir liegt die Rückbesinnung auf die traditionelle Schweizer Küche am Herzen», erklärt Manuel Falch. Bei den vielen Einflüssen heutzutage wisse man gar nicht mehr, was man ursprünglich in der Schweiz gegessen habe. Während er erklärt, schälen die Kinder die Kartoffeln, hacken die Zwiebeln, würfeln die Birnen. «Manche Gäste buchen den Kochkurs auch für ein Festtagsessen», erzählt uns Manuel. Gerade während Corona sei das Angebot sehr beliebt gewesen.
Als das Menu fertig ist, staune ich nicht schlecht: Die Kinder, die vorzugsweise Pasta ohne Sauce oder Risotto Milanese essen, probieren alle drei Gänge – und verziehen kein einziges Mal den Mund. Ich glaube, sie sind auch ein bisschen stolz auf die Gerichte, die sie mitzubereitet haben.
Wir hätten noch so viel sehen wollen: das Geissenparadies auf der Göscheneralp etwa. Oder das Museum Sasso San Gottardo, im Innern der unterirdischen Festung auf dem Gotthardpass. Doch für Ersteres war die Zeit zu kurz, für Letzteres das Wetter zu gut. So ist es eben hier oben: unberechenbar und immer für eine Überraschung gut.
Miriam kümmert sich seit Juli 2018 bei PATOTRA hauptsächlich um das Themengebiet Reisen mit Kindern.
«Als langjährige Journalistin ist es für mich selbstverständlich, mit Neugier und offenen Augen durchs Leben zu gehen. Doch nicht immer sieht man aus der eigenen Perspektive alles – und so bin ich glücklich und dankbar, dass mein Mann und meine Kinder (14 und 8 Jahre) meine Weltsicht erweitern.
Ich liebe es, neue Welten zu entdecken – seien sie nah oder fern. Low-Budget-Reisen durch Südostasien gehören für mich ebenso dazu wie ein Verwöhnwochenende in den Alpen. Wichtig sind mir vor allem zwei Dinge: Die Reiseorte müssen authentisch sein. Und: Sie müssen nicht nur mich und meinen Mann, sondern auch unsere Kinder begeistern.»
Offenlegung: Dieser Artikel ist im Rahmen einer Rechercheeinladung entstanden.