Es ist noch Nacht, wenn sich die Silvesterkläuse am alten Silvester mit ihren kunstvollen Kostümen und Hauben auf den Weg machen, um den Bewohnern von Urnäsch im Kanton Appenzell-Ausserrhoden in der alten Tradition des Silvesterklausen ein gutes neues Jahr zu wünschen.
Diese gelebte Tradition gehört zu den eindrücklichsten Traditionen der Schweiz!
Am 13. Januar wird in Urnäsch und anderen Gemeinden im Appenzellerland, dem julianischen Kalender folgend, der alte Silvester gefeiert. In dieser Tradition zeigt sich der etwas aufmüpfige Geist der Appenzeller. Man liess und lässt sich nicht gerne von der Obrigkeit diktieren. Die Kalenderreformen von 1584 und 1789 ignorierte man in diesem Fall. Schliesslich wollte man sich nicht von einem Papst diktieren lassen, wann Silvester zu feiern ist. Appenzeller haben ihren eigenen Kopf und das ist in aller Regel* auch ganz gut so. Man ist traditionsverbunden und dabei trotz allem ganz und gar nicht altbacken. Das fällt mir bei meinem Reisen im Appenzellerland immer wieder sehr positiv auf.
Dem leicht rebellischen Geist der Appenzeller ist es also zu verdanken, dass im Appenzellerland gleich zweimal Silvester gefeiert wird: Der neue Silvester am 31. Dezember und der alte Silvester am 13. Januar. Der alte Silvester mit dem Silvesterklausen ist für viele Urnäscher der höchste Feiertag im Jahr.
Gruppen von 5 bis 13 Männern ziehen ab etwa 5 Uhr morgens auf ihrem Streech (Route) von Hof zu Hof. Schuppel nennt man so eine Gruppe, die sich aus zwei, selten drei Rollis und mehreren Schellis zusammensetzt. Rollis, das sind die mit den Kugeln an Brust und Rücken, Schellis diejenigen mit den grossen Einzel- oder Doppeltreicheln (Schellen). Je ein Vor-Rolli und ein Nach-Rolli hält den Schuppel zusammen. Dazwischen gehen die Schellis in ihrer ganz besonderen Gangart und Takt.
Sobald sich die Gruppe einem Hof nähert, beginnt das Anklausen. „Besonders die älteren Appenzeller achten sehr darauf, dass dabei die vorgegebene Choreografie eingehalten wird“, erfahre ich von Nino vom Appenzellerland Tourismus. Er muss es wissen. Immerhin ist er hier aufgewachsen und auch wenn er selbst nicht als Silvesterklaus unterwegs ist, so ist er doch tief mit dieser Tradition verbunden. Sein Vater war als Silvesterklaus unterwegs.“Es ist üblich, dass die ganze Familie beim Erstellen der Kostüme und Hauben mithilft. Bis zu 1’000 Arbeitsstunden stecken in so einem Kostüm und alle vier Jahre wird ein Neues erstellt“, erzählt er mir.
Das Resultat begeistert nicht nur die recht zahlreich anreisenden Gäste.
Keine Nachwuchsprobleme beim Silvesterklausen
Nachwuchsprobleme gibt es beim Silvesterklausen jedenfalls keine. Schon kleine Kinder sind ab dem zarten Alter von fünf Jahren begeistert beim Silvesterklausen dabei. Die sind, auch weil sie bis zum Alter von etwa 8 Jahren noch keine Masken tragen, ganz besonders entzückend.
Drei Sorten von Kläusen sind beim Silvesterklausen unterwegs
- „Die Schöne“: Mit den besonders aufwendigen Hauben. Die sind in den frühen Morgen- und späten Abendstunden sogar beleuchtet. Es ist eine Pracht das zu sehen und ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Die Hauben der Schönen können dabei bis zu 15 kg wiegen und die ganzen Kostüme bis zu 40 kg. Wahnsinnig, was für ein Gewicht die Silvesterkläuse mit sich runtragen!
- „Die Schö-Wüeschte“: Das sind die Schön-Hässlichen. Sie werden auch Naturkläuse genannt. Ihr Kostüm besteht aus Tannenreiseig, Moos und anderen Naturmaterialien. Auch sie tragen Hauben bzw. eine Kopfbedeckung.
- „Die Wüeschte“: Das sind die Hässlichen, obwohl diese Übersetzung den eigentlichen Wortsinn nicht genau trifft, denn hässlich sind auch die Wüeschte nicht. Die Wüeschte werden so bezeichnet wegen Ihrer dämonenhaften Masken und ihrem wilden Aussehen.
Der Ablauf vor den Höfen ist immer der gleiche. Nach dem Anklausen stellen sich die Silvesterkläuse im Kreis auf. Ihre rhythmischen Bewegungen lassen die Schellen und Rollen erklingen und im Anschluss folgt ein Zäuerli (Naturjodeln). Schellen und Zäuerli werden je dreimal wiederholt. Dazwischen reicht die Familie den Silvesterkläusen Getränke, Glühwein, Weisswein und Wasser. Nach dem letzten Zäuerli wünschen die Silvesterkläuse allen Hausbewohnern noch per Handschlag „e guets Neus“, bevor es mit lautem Getöse weitergeht zum nächsten Hof.
Das Silvesterklausen ist der eindrücklichste Schweizer Neujahrsbrauch, den ich jemals erleben durfte. Noch in der Dunkelheit des Wintermorgens ein Zäuerli zu erleben ist ein tief ergreifender Moment, der niemanden kaltlässt. Da ist Gänsehaut garantiert und auch die eine oder andere Träne muss dabei verdrückt werden!
Hier bekommt Ihr einen kleinen Eindruck:
Silvesterklausen in Urnäsch:
Film dazu auf Youtube
Trotz aller Begeisterung sollte man als Fremder immer im Hinterkopf behalten, dass es sich hierbei um eine sehr private Angelegenheit handelt. Das Silvesterklausen ist zum Glück keine Folkloreveranstaltung. Das ist gelebte Tradition! Der Respekt gebührt es, dass man als stiller Beobachter einen gewissen Abstand zum Geschehen einhält.
Am Nachmittag herrscht im Tal dann mehr Trubel. Schaulustige und Einheimische bevölkern die Strassen, um einen Blick auf die verschiedenen Schüppel zu erhaschen, die jetzt auch hier von Haus zu Haus ziehen, um jeder Urnäscher Familie die mit den Zäurli verbundenen Neujahrsgrüsse zu überbringen.
Ein unvergessliches und ganz einzigartiges Erlebnis!
*Ich sehe jetzt hier mal vom Frauenwahlrecht ab.
Was man sonst noch wissen sollte:
Wenn der 13. Januar auf einen Sonntag fällt, wird am Samstag davor geklaust!
Ellen Gromann-Goldberg
Globetrotterin mit Anhang, immer mit der Kamera im Anschlag und dem Notizblock in der Hand. Mit und ohne meine Familie, zwei Teenager, ein Twen und mein Mann, bin ich auf der Suche nach den besonderen Orten, Erlebnissen und Geschichten rund um die Welt und in meiner Heimat am schönen Bodensee.
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Offenlegung: Herzlichen Dank an Appenzellerland Tourismus AR für die Unterstützung bei der Recherche!