Singapur gehört zu den Städten mit den weltweit höchsten Lebenshaltungskosten. Dennoch: Eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen der Singapurer ist Shopping. Hinter den glänzenden Fassaden der Orchard Road, der Luxux-Shoppingmeile Singapurs, frönen sie dem Konsumrausch scheinbar hemmungslos. Wer Singapur nur flüchtig betrachtet, der bekommt den Eindruck von unermesslichem Reichtum und Wohlstand. Die Stadt wächst rasant – immer mehr Hochhäuser wachsen immer höher in den Himmel und mit ihnen wächst die Wirtschaft. Eine Stadt der Superlative. Rund 5,5 Mio Einwohner „verteilen“ sich auf nur 718 qm Landfläche. Das entspricht in etwa der Grösse von Hamburg (ca. 1,8 Mio. Einwohner) oder dem Kanton Glarus (ca. 40.000 Einwohner).
Jenseits der supermodernen Wolkenkratzer, Konsumtempel und wirtschaftlichen Machtzentralen gibt es aber auch die ganz andere Seite von Singapur. Eine Seite, die den meisten Touristen vermutlich verborgen bleibt.
Treffen mit Gisela in Joo Chiat
Es ist 9:30 Uhr und Gisela erwartet mich bereits an der MRT-Station Paya Lebar. Gisela lebt mit ihrem Mann seit letztem August in Singapur. Sie kommt eigentlich aus Bad Zurzach, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Ich bin ihr erster Besuch aus der heimatlichen Schweiz und ich freue mich sehr, dass sie bereit ist, mir diese ganz andere Seite von Singapur zu zeigen.
Während wir durch den Stadtteil Joo Chiat gehen, einem malaiisch geprägten Stadtteil im Südosten Singapurs, erzählt mir Gisela von ihrer Motivation für das, was sie hier tut.
„Während mein Mann für die nächsten 2 bis 3 Jahre hier einen Job hat, war es mir wichtig Struktur in meinen Tagesablauf zu bringen. Ausserdem wollte ich mich so schnell wie möglich integrieren und Einheimische kennenlernen. Auf der Suche nach einer sinnvollen Betätigung bin ich auf die Suppenküche gestossen. Jetzt bin ich zweimal pro Woche für ein paar Stunden dort und rüste Gemüse oder helfe beim Schöpfen der Mahlzeiten.„
Unser Weg führt uns durch eine typische Singapurer Wohngegend. Singapur hat es dank eines durchdachten Wohnungsbaus geschafft, die Bildung von Slums zu verhindern. Hier gibt es Wohnraum für alle und es wurde darauf geachtet, dass sich die Mieter in jedem Wohnkomplex aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammensetzen.
In Joo Chiat erinnert wenig an die luxuriöse Geschäftigkeit von „Downtown“ Singapur. Eine achtlos weggeworfene Getränkedose fängt meinen Blick und gleich darauf hebt sich eine weisse Plastiktüte vom grünen Gras. Die ganz normalen Seiten einer Stadt. Nicht, dass ich Müll auf den Strassen mag, aber angesichts der sonst so klinischen reinen Fassade Singapurs tut diese Normalität fast schon gut…
Die Suppenküche von „Willing Hearts“
An der Eingangspforte zum Gebäudekomplex der „Willing Hearts“ trägt uns Gisela beim Security Posten in das Besucherbuch ein. Sie hat meinen Besuch angemeldet. Der Pförtner schaut uns kurz prüfend an, nickt dann freundlich und lässt uns passieren.
In den sauberen, modernen Gebäuden geht es geschäftig zu. Da wird in riesigen Töpfen gebraten und gekocht, geschöpft und verpackt und gescherzt. Rund 5’000 Mahlzeiten werden hier täglich für Bedürftige zubereitet. Abgesehen von zwei Angestellten sind nur Freiwillige am Werk: ältere Menschen, die die Möglichkeit nutzen, um etwas Gesellschaft zu haben, Damen in Stöckelschuhen und Designerkleidchen, die ihr Karma verbessern möchten, am Wochenende häufig auch Familien, ganze Firmenbelegschaften zum „Teambuilding“, Expats* die Anschluss an die Bevölkerung suchen, Menschen wie Du und ich, Menschen, die etwas Gutes tun möchten.
(*Expat: Person, die auf Zeit, oder dauerhaft ihren Wohnsitz in einem anderen Kulturkreis hat, als indem sie aufgewachsen ist)
Heute gibt es Frühlingsrollen und Hühnchen mit Gemüse und Reis.
Trotz der vielen fleissigen Hände, die emsig bei der Arbeit sind, herrscht eine unerwartet entspannte Atmosphäre in der Suppenküche. „Das ist nicht immer so“, erfahre ich von Gisela, „manchmal ist es auch ganz schön hektisch“.
In einem überdachten Flur, dort wo die grossen, roten, bis oben mit portionierten Essen gefüllten Plastikbehälter darauf warten von Freiwilligen abgeholt und an ihren Bestimmungsort gebracht zu werden, sitzt auf einem weissen Sessel mit hoher Rückenlehne Tony Tay. Sein riesiges Handy klingelt unaufhörlich. Unermüdlich antwortet er und gibt zwischendrin den Fahrern, die nun bereit sind, die Essen auszuliefern, die letzten Anweisungen. Sein blaues T-Shirt ist fleckig und er strahlt. In einer kurzen Handypause begrüsst er mich freundlich.
Wie das Projekt angefangen habe, möchte ich von ihm wissen.
„Eigentlich hat es mit einer einzigen Mahlzeit angefangen, die ich an einen Bedürftigen ausgegeben habe und dann wurden es immer mehr. Die Menschen fragten danach. Das war im Jahr 2003. Heute liefern wir täglich 5000 Mahlzeiten aus.“
Ein gewisser Stolz schwingt da im Unterton schon mit, auch wenn Tony sehr bescheiden wirkt und es klingen lässt, als wäre diese Entwicklung das Normalste der Welt. Tony steht auch heute noch jeden Morgen um 4:30 Uhr in der Küche und kümmert sich bis 6:00 Uhr abends darum, dass der „Laden“ läuft.
Wieder klingelt sein Handy. „Nein, wir verkaufen keine Mahlzeiten. Wir sind nicht kommerziell. Wenn sie bedürftig sind, müssen sie sich bei der Sozialbehörde melden und bekommen dann die Mahlzeiten zugeteilt. Verkaufen tun wir nicht, aber Spenden nehmen wir gerne entgegen.“
Tony schaut mich etwas abwesend an: „Wo waren wir noch stehen geblieben? Ach ja, 5’000 Mahlzeiten und alles basiert auf Spenden und Freiwilligenarbeit. Den Reis bekommen wir meist von den nahegelegenen Tempeln gespendet, Obst und Gemüse von Märkten. Nur Schweinefleisch und Rindfleisch verarbeiten wir nicht. Aus Rücksicht auf die Religionen der Empfänger. Abgesehen von zwei Festangestellten arbeiten hier nur Freiwillige. Vom Gemüserüsten bis zum Ausfahren der Mahlzeiten, ein Dienst der häufig von Taxifahrern in ihrer Freizeit übernommen wird, sind hier viele fleissige Hände am Werk, ohne die dieses Projekt nicht möglich wäre.“
Tony betont das mit einem dankenden Blick hinüber zu Gisela, die hier regelmässig ihren Dienst tut.
Rundum Versorgung dank Freiwilligenarbeit
„Komm mit, ich zeig Dir was!“. Tony weist mir mit der Hand den Weg in das gegenüberliegende Gebäude. „Hier bieten wir weitere Dienste für Bedürftige an. Ein Arzt, ein Arzt der Traditionellen chinesischen Medizin, ein Optiker, eine Werkstatt in der Brillengläser hergestellt werden, ein Zahnarzt und auch ein juristischer Beratungsdienst haben hier ihren Platz. Die Menschen werden nach Voranmeldung von uns zu Hause abgeholt und werden dann hierher zum Arzt gebracht.“ Das Wartezimmer des Arztes ist voll und ich bin schwer beeindruckt. Auch ein Projekt zur Unterstützung von Kindern mit Schulproblemen, aus Familien, die sich keine Nachhilfe leisten können, habe man mittlerweile lanciert. Allerdings an einem anderen Standort erfahre ich weiter.
Tonys Handy klingelt wieder: „Ja, ihr Mann hat sich von ihr getrennt und sie ist jetzt in finanzieller Not. Sie bräuchte dringend juristische Beratung. Können sie einen Termin vereinbaren?“ Er gibt eine Telefonnummer durch und das Gespräch ist kurz darauf beendet.
Wieder beim weissen Sessel, bietet Tony mir und Gisela einen Kaffee an, den er selbstverständlich selbst für uns zubereitet.
„Was für Menschen benötigen hauptsächlich Hilfe?“, möchte ich wissen. „Menschen, die durch die Maschen des Systems gefallen sind, alte Menschen, Familien. Menschen, die im Leben Fehler begangen haben, Gastarbeiter, vor allem aus den Philippinen. Wir arbeiten auch mit der philippinischen Botschaft zusammen. Wichtig ist uns dabei, dass wir jedem helfen. Wir sind keine religiöse und auch keine politische Organisation“, betont Tony. Er selbst sei chinesischer Katholik, verrät er mir. „Aber das spielt hier keine Rolle. Wir alle tun nur unsere Arbeit und helfen, wo wir können und sorgen so dafür, dass sich die Welt weiterdreht! Wir geben bedürftigen Menschen ihr tägliches, lebensnotwendiges Essen und ermöglichen ihnen damit vollwertige und nützliche Mitglieder dieser Gesellschaft zu sein.“
Aus Tonys Mund hört sich das ganz einfach an. Sein Handy klingelt wieder und ich merke, dass ich ihm langsam genug seiner kostbaren Zeit geraubt habe. Wir verabschieden uns in einer kurzen Handypause.
Bevor ich mich mit Gisela wieder auf den Weg in Richtung schillernde Grossstadt begebe, schauen wir noch kurz bei der Gemüserüststation vorbei. Auch hier herrscht eine rege Betriebsamkeit. Eine junge Frau blickt mit einem, dank unechter Wimpern, umwerfenden Wimpernaufschlag zu uns auf. Während ihre perfekt lackierten Fingernägel einen spannenden Kontrast zum Grün des Kohls bilden, schneidet sie, sichtbar ungeübt, ebendiesen in kleine Stücke und strahlt mich zwischen zwei Schnitten kurz an. Die meisten Singapurer haben zu Hause Angestellte für so etwas. Aber Helfen ist gut fürs Karma und ich habe den perfekten Übergang zum Hochglanz-Singapur, zu den Superlativen, den Konsumtempeln, den touristischen Attraktionen, die auf mich warten.
Darüber berichte aber ein anderes Mal.
Ich finde es unglaublich spannend, auch mal eine so ganz andere Seite einer Stadt zu sehen. Es ist, als hätte ich die klinisch reine Oberfläche Singapurs ein wenig verlassen, um ihr ein kleines Bisschen in die Seele zu schauen.
Ich wünsche Euch viele spannende Reisen, in denen Ihr auch mal hinter die Fassaden schauen könnt und solltet. Es gibt auch dort Spannendes zu entdecken.
Mit sonnigen Grüssen,
Ein ganz herzliches Dankeschön an Gisela für diesen spannenden Einblick!
Wer mehr über ihr Leben als „Expat“ in Singapur wissen möchte, dem empfehle ich dringend einen Besuch auf Giselas Blog Dr. Koeferli
Infos:
Willing Hearts ist eine der grössten Suppenküchen in Singapur. Weitere Infos zu dem Projekt der Willing Hearts findet ihr hier.
8 Antworten
Wie habe ich gewartet! Dieser Artikel ist für mich mega spannend! Und brührend ebenso! Unglaublich, was hier geleistet wird. Überraschend ist auch, die andere Seite vom glamurösen Singapur zu sehen! Super!
Liebe Rosmarie
Hach, das freut mich!
Ja, dieser Einblick war unglaublich spannend und eben so ganz anders!
Tolle Menschen sind dort am Werk!
Hallo,
sehr schöner Bericht über eine meiner Lieblingsstädte. Toll das mit der Suppenküche. Gefällt mir sehr. Ich war schon beruflich und privat in Singapur und kenne etwas die beiden Seiten der Stadt.
Lg Thomas
Lieber Thomas
Ganz lieben Dank für Deinen lieben Kommentar! Das macht wohl grade den Reiz dieser Stadt aus, dass sie zwei komplett unterschiedliche Seiten hat. Einfach spannend, diese Seiten zu entdecken!
Lieber Gruss,
Ellen
Nach dem Kreuzchen oben hier noch ein paar Worte: Finde ich prima, ich lese genau solche Geschichten gerne. Diese leider oft viel zu seltenen Einblicke sind gerade das Tolle am Reisen. Für mich: Bitte mehr davon! LG Stefanie
Liebe Stefanie
Hab ganz herzlichen Dank für Dein Feedback und den lieben Kommentar. Es freut mich riesig, dass auch solche Geschichten Anklang finden und so wird es bestimmt in Zukunft mehr davon geben.
Liebe Grüsse,
Ellen
Spannend! Einen Artikel über Singapur als Reiseziel hätte ich nie gelesen, aber dieser Einblick interessiert mich durchaus. Für mich hat Reisen wenig mit schicken Hotels und weißen Stränden zu tun und sehr viel mit Menschen und dem Wunsch, ein anderes Land wirklich zu verstehen. Das ist natürlich Geschmackssache.
Liebe Grüße,
Lena
Liebe Lena
Lieben Dank für Deinen netten Kommentar. Es freut mich sehr, dass Du den Artikel spannend findest.
Ich mag beide Seiten, wenn ich reise: ich geniesse durchaus den Luxus eines schönen Hotels, möchte aber trotzdem auch hinter die Kulissen blicken. Für mich macht es die gute Mischung aus. Diese Mal haben wir uns in Singapur tatsächlich voll und ganz auf das Eintauchen in die Kultur eingelassen und in einem Air B&B in einem typischen Wohnviertel, etwas ausserhalb, übernachtet. Das war nett, aber ich muss zugeben, dass ich ein schönes Hotel dieser Reisevariante vorziehe. Aber dazu bald mehr hier im Blog…
Lieber Gruss,
Ellen