Kurzgeschichte Irland – Es passiert nicht viel dieser Tage

Die heutige Länder Kurzgeschichte führt uns nach Irland. Vorgaben waren die Wörter Druide, Möwe und Meerjungfrau.
Inhalt

Die Sonne scheint durch die matten Schlieren auf dem Fenster. Sie sollte mal wieder putzen.


Es passiert nicht viel dieser Tage.

Das Highlight der Woche ist der Einkauf im Dorfladen, jeden Freitag. Selbst dort, wo sonst begierig der neuste Tratsch geteilt wird, gibt es zurzeit keine Neuigkeiten. Kein Wunder, sind doch sämtliche Pubs seit Wochen geschlossen.

Es passiert nicht viel dieser Tage.

Nur ihr täglicher Spaziergang vermag es, sie ein wenig aus der Monotonie des Alltags zu entführen, der nun schon seit Wochen darin besteht, alleine im Haus zu hängen und im Schlabberlook am Computer zu sitzen und ihren Bürokram im Homeoffice zu erledigen.

Voll Vorfreude zieht sie ihre schweren ledernen Wanderschuhe an und bindet die roten Schnürsenkel zu einer strammen Schleife. Gleich hinter ihrem Haus führt der Pilgerweg vorbei, der insgesamt 15 Stationen umfasst. Nicht, dass sie besonders gläubig wäre, aber sie mag die Kraft, die von manchen der Pilgerstationen ausgeht – und ausserdem verläuft der Weg nunmal zufälligerweise genau hinter ihrem Haus.

Der Wind weht kühl durch ihr schwarzes Haar. Seltsam, dass die meisten Menschen denken, Irinnen müssten rotes Haar haben. Ihre Haare sind kohlrabenschwarz. Ihre Augen glänzen im hellblau wie das Meer und ein paar helle Sommersprossen zieren ihre weisse, an feines Porzellan erinnernde Haut.

Mit leichtem Schritt wandert sie begrauf. Schafe grasen auf dem Hügel. Sie heben kurz den Kopf, während sie an ihnen vorbei geht und grasen dann genüsslich weiter. In der Ferne spielt der Atlantik sein ewiges Wellenspiel an die schroffe Felsküste.

Die klare Meeresluft durchströmt ihre Lungen. Dieser Tage ist die Luft noch klarer, als sie es ohnehin schon war. Flugzeuge hat man hier schon lange nicht mehr gesehen.

Es passiert nicht viel dieser Tage.

Der Boden unter ihren schweren Wanderschuhen ist weich. An manchen Stellen sinkt sie in dem feuchten Untergrund ein. Mit einem schmatzenden Geräusch lösen sich ihre Sohlen aus dem torfigen Boden. Sie muss vorsichtig gehen, um nicht auszurutschen. Das Gehen ist anstrengend auf diesem Untergrund. Ihr Atem geht schwer. Ganz auf den Boden und ihre Schritte konzentriert, bemerkt sie kaum, dass sie schon am grossen Steinwall angelangt ist. Pilger haben hier über Jahrhunderte hinweg Steine abgelegt und das, was irgendwann mal als kleiner Steinhaufen begann, ist mittlerweile zu einem beachtlichen Steinwall angewachsen.

Auch wenn sie schon hunderte Mal hier war, ergreift sie immer wieder eine tiefe Ehrfurcht. Sie liebt diesen Ort. Auf unerklärliche Weise strömt er eine Kraft aus, die sie sonst noch nirgends gespürt hat.

Kraft braucht man dieser Tage.

Sie setzt sich auf einen grossen, mit Flechten bewachsenen Felsen, um sich ein wenig auszuruhen. Ihr Blick schweift über die grünen Wiesen, die steile Küstenlinie bis weit hinaus auf den Atlantik. Sie liebt es, an diesem Ort ihren Gedanken nachzuhängen.

Es passiert nicht viel dieser Tage.

„Komm mit“, reisst sie eine tiefe, warme Stimme aus ihren Gedanken. Ein Druide mit langem, weissem Haar und wachen Augen steht vor ihr. Er trägt eine helle Kutte und unter seinem langen weissen Bart blitzt ein Amulett, mit einem Zeichen, das sie nicht deuten kann. Wo mag er wohl hergekommen sein?

„Komm mit!“ wiederholt er mit fester, jetzt bestimmter Stimme und deutet in Richtung Meer. Widerstandslos steht sie auf und folgt ihm. Da wo ihre Schuhe vorher noch im Matsch eingesunken waren, kommt es ihr vor, als würde sie über die Erde schweben. Ganz leicht sind ihre Schritte. Auch der Druide wandelt scheinbar schwerelos über den Untergrund. Sie folgt im in Richtung Meer.

An einem Felsen am Strand bleibt er stehen. Er deutet ihr mit einer leichten Handbewegung ins Meer zu springen.

Sie liebt das Meer, aber gleichzeitig fürchtet sie sich davor. Wie die meisten Iren ist sie keine sonderlich gute Schwimmerin. Das Meer ist ohnehin die meiste Zeit des Jahre zu kühl, um darin zu schwimmen.

Mit etwas mehr Nachdruck deutet der Druide auf das Wasser. Dort, wo das Meer eben noch tosend gegen die Küste rollte, liegt es jetzt flach und ruhig vor ihr. Ihre Angst weicht einer nie da gewesenen Freude.

Sie springt in das kühle Nass. Dort wo gerade noch ihre ledernen Wanderschuhe waren, blitzt nun eine silberne Flosse in der Sonne. Dann taucht sie unter. Das Blau des Meeres umhüllt sie wie eine warme, weiche Decke. Zwei Delfine nehmen sie in ihre Mitte. Gemeinsam jagen sie durch die Wellen. Es folgt ein aufregendes, synchrones Spiel. Sie springen aus dem Wasser, tauchen wieder ein, tanzen einen schwindelerregenden Tanz. Nie zuvor hat sie sich so leicht gefühlt. Wieder und wieder vollführen sie Luftsprünge über dem Wasser. Über ihnen kreischt laut eine grosse Möwe.

Sie öffnet die Augen. Wieder kreischt die Möwe unnachgiebig über ihr.

Sie muss eingeschlafen sein. Gut hat die Möwe sie geweckt. Die Sonne steht schon tief. Sie färbt den woklenverhangengenen Himmel in orangefarbenes Licht. Es ist höchste Zeit, den Heimweg anzutreten.

Sie stützt sich auf dem flechtenbewachsenen Felsen ab und kommt auf die Beine. Was für ein verrückter Traum!

Sie löst die lockeren roten Schuhbändel und bindet sie wieder zu einer strammen Schleife. Sie müssen sich auf dem Weg nach oben gelöst haben.

Vorsichtig wandert sie über die sumpfigen Wiesen bergab. Das Dorf ist in der Ferne schon zu sehen. Sie fährt sich durch ihr schwarzes, langes Haar. Dabei bekommen ihre Finger etwas zu fassen, das sich in ihren Haaren verfangen hat. Ein kleines Stückchen Seetang.

Es passiert nicht viel dieser Tage!

Handlungsort dieser Geschichte ist der kleine Ort Glencolumbkille im County Donegal, im Nordwesten Irlands. Den Pilgerweg und den Steinwall gibt es dort tatsächlich. Ich bin einen Teil davon im vergangenen Herbst gewandert. Auch sonst ist in der Geschichte Fiktion mit viel Wirklichkeit verwoben. Wer mehr über diese wundervolle Gegend erfahren möchte, der findet hier ein paar Eindrücke: County Donegal – im Land der Feen und Fiedeln

Infos zu den Kurzgeschichten:
In den kommenden Wochen erscheinen hier weitere Kurzgeschichten. Ich gebe dabei jeweils ein Land vor. Ihr dürfte auf Facebook, Instagram, oder auch hier auf dem Blog je drei Gegenstände nennen. Einen Eurer Vorschläge suche ich mir dann aus, um auf Basis dieser Wörter die nächste Kurzgeschichte entstehen zu lassen. Für diese Geschichte aus Irland waren es die Wörter Druide, Möwe und Meerjungfrau. Danke, an Barbara für den Vorschlag!

Nächstes Mal ist Italien dran. Ich freue mich auf Eure Wortvorschläge!

2 Antworten

  1. Guets Mörgeli!
    Was für eine wundervolle, kleine Geschichte! Gut geschrieben und das Stück Seetang am Ende lädt zum Weiterträumen ein…
    Merci für de schön Sunntigsmorge!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert